Die Rhein-Neckar-Zeitung und die Fränkischen Nachrichten berichteten am 4. Oktober 2012:
"Mit Versöhnung den Frieden im Leben finden"
Walter Kohl (rechts mit Moderator Alexander Dambach) sprach eindrucksvoll über sein Leben als "Sohn vom Kohl" und zeigte dem Publikum Wege zur Versöhnung mit sich und anderen auf.
Buchen. (mb) "Verletzungen kann man nur dort heilen, wo sie passiert sind." Für Walter Kohl, Sohn des Alt-Bundeskanzlers, bedeutet das, dass er mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen muss, um seinen inneren Frieden zu finden. Er tat dies mit seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch "Leben oder gelebt werden", über das er am Montagabend mit Moderator Alexander Dambach vor rund 300 Besuchern in der Stadthalle sprach.
Auf der Bühne nahm ein jovialer, leutseliger 49-Jähriger Platz, der in Statur, Frisur, Mimik und Gestik stark an seinen Vater erinnerte. Er sprach offen über Kindheit und Jugend, über Vater, Mutter und Begegnungen, die meist von seiner Rolle als "Sohn vom Kohl" geprägt waren. Die Prominenz seines Vaters, der auf den Tag genau vor 30 Jahren das erste Mal als Bundeskanzler vereidigt worden war, übte sicher einen besonderen Reiz auf das Publikum aus. Doch Walter Kohl gelang es immer wieder, das Allgemeingültige seiner Erfahrungen zu betonen. "Das, was man erlebt hat, muss in einen inneren Frieden gebracht werden", sagte er immer wieder. Dies gelinge nur, wenn man die eigene Sprachlosigkeit überwinde.
Zunächst bekamen die Besucher teilweise Schockierendes zu hören. So prügelte sich der kleine Walter an seinem ersten Schultag im August 1969 mit Mitschülern, die ihn ärgerten, weil er der Sohn des damals frisch gewählten Ministerpräsidenten von Rheinland Pfalz war. "Das, was ich sagen wollte, konnte ich nicht sagen. Diese innere Sprachlosigkeit war der Kern von Gewalt", erklärte Kohl sein damaliges Verhalten. "An dem Tag habe ich gemerkt, dass ich allein bin." Dieses Gefühl sollte ihn über Jahrzehnte begleiten.
Kein Kind wollte mit den beiden Kohl-Buben spielen, erst recht nicht in der Zeit des RAF-Terrors in den 70er Jahren. Der Kohl-Bungalow in Oggersheim habe einer "Hochsicherheits-Enklave" geglichen. Die Söhne mussten Codewörter lernen, die sie im Falle einer Entführung in eine Videobotschaft einflechten sollten. "Ich bin mir wie ein Bauer auf einem Schachbrett vorgekommen." Sein Vater hatte kein Verständnis für die Nöte des Jungen. Er forderte von ihm: "Du musst stehen." Für Walter Kohl war dies eine Zeit totaler Sprachlosigkeit.
Der Junge floh in eine Traumwelt oder haute ab in den nahegelegenen Wald. Als er im Alter von 16 Jahren einen Motorroller erhielt, war ihm jede Gefahr egal. "Wenn sie mich entführen, dann bin ich tot", habe er sich gedacht. "Ab da begann meine Jugend, meine Freiheit." Doch den Schatten seines prominenten Vaters wurde er nie los.
Nach dem Abitur begab er sich auf seiner Sinnsuche für einige Wochen in ein Kloster, dann wurde er Zeitsoldat. Nach seinem Studium der Volkswirtschaft lebte und arbeitete er in den USA und glaubte, dem allgegenwärtigen Vater entkommen zu sein. Bis zur Wende und Wiedervereinigung lebte er dort das normale Leben eines normalen Bürgers. Doch dann blickte ihn das Gesicht seines Vaters von der Titelseite des "Time Magazin" herab an. Daraufhin verweigerten ihm Kollegen und Bekannte den Händedruck. Unbekannte malten Hakenkreuze auf seinen Schreibtisch. Sein eigenes Bild wurde mit Hitlerbärtchen verunstaltet. "Der Schatten deiner Vergangenheit holt dich immer ein."
Kohl kehrte nach Deutschland zurück, heiratete und fühlte sich dennoch leer und unglücklich. Besonders schlimm erlebte er die Zeit der Parteispendenaffäre im Jahr 2000. Die ganze Familie sei für das Handeln seines Vaters in Mithaftung genommen worden. 90 Prozent der Menschen in seinem Umfeld wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Im Jahr 2002 wählte Hannelore Kohl den Freitod, Walter Kohls Ehe zerbrach. Er plante seinen Selbstmord als Tauchunfall.
Da stieß er auf das Buch "... trotzdem Ja zum Leben sagen" von Viktor Frankl, dessen Angehörige in Konzentrationslagern ums Leben gekommen waren. Kohl setzte sich intensiv mit der Bedeutung von Versöhnung für ein gelingendes Leben auseinander und hielt schließlich Vorträge darüber. Ein Verlag regte an, ein Buch über seine Erfahrungen zu schreiben. Inzwischen ist Walter Kohl wieder verheiratet und führt gemeinsam mit seiner Frau ein mittelständisches Unternehmen.
Wer sich mit den Verletzungen seines Lebens auseinandersetze, gelange in eine Art Kreisverkehr mit drei Ausfahrten: Kampf, Flucht und Versöhnung, sagte Kohl. Wer die Versöhnung wählt, verlasse das "Opferland" des eigenen Lebens. Erster Schritt dazu sei es, über die eigenen Verletzungen zu sprechen, sich selbst und anderen gegenüber. Man müsse zu seinen Gefühlen stehen und mit sich selbst Frieden schließen. Versöhnung sei auch möglich, wenn der Andere diese ablehne.
Walter Kohl fordert jedoch nicht, sich mit jedem zu versöhnen, sondern mit den Menschen, die eine wichtige Rolle im eigenen Leben spielen: "Ich bin kein Versöhnungs-Junky." Mit manchen Menschen wolle er kämpfen, vor anderen fliehen. Kampf sei vor allem bei jenen angesagt, die Versöhnung als Schwäche auslegten, Flucht bei jenen, die für das eigene Leben keine große Bedeutung hätten. Doch im Bereich der Familie und eigenen Herkunft rät Walter Kohl, den Weg der Versöhnung zu wählen: "Kümmert euch um die wichtigen Dinge, dann kommt der Rest von allein", riet der 49-Jährige dem Publikum.
Text u. Foto: Martin Bernhard